Auch Schönes braucht Selbstregulation

Diesen ersten Advent werde ich noch länger in Erinnerung behalten. Haufenweise Schnee liegt auf den Wegen dieser neuen Nachbarschaft, wo ich meinen ersten Winter erlebe nach dem Umzug im Sommer. Minusgrade, dankbar für die Winterstiefel und den Tag mit Stille, Schneeflocken, Journaling und einem guten (nicht-weihnachtlichen) Film. Nun stapfe ich mit meinem Mann zu unserem ersten gemeinsamen klassischen Konzert, Adventsmusik in der nahegelegenen kleinen Steinkirche. Wir kommen rechtzeitig an, doch die Sitzbänke sind schon überfüllt. Stühle mitnehmen, ruft uns jemand entgegen und so schnappen wir Klappstühle, die beim Eingang stehen, und bahnen uns einen Weg durch die Menge auf der Suche nach einem Ort für unseren Klappstuhl. Am besten ganz vorn, sagt jemand neben mir, und gibt mir damit die Motivation, mich vorzuwagen. Nun finden wir tatsächlich Plätze, ich in der ersten Reihe, mein Mann hinter mir. Damit hatten wir nicht gerechnet, unser knappes Eintreffen sollte für versteckte Plätze auf den hinteren Reihen sorgen.

Auf meinem Platz ganz vorne muss ich meine Beine beiseite drücken, um den Mitgliedern des Chors, den Solistinnen und der Dirigentin Platz zu machen, die an mir vorbei den Bühnenteil des Raums betreten. Dieser und die Plätze des Streichquintetts liegen drei Schritt von mir entfernt, der Chor steht etwas weiter hinten, aber alle auf gleicher Ebene mit uns Zuhörern. Schüchtern hebe ich den Kopf, um den Violonisten, der Oboistin und den Chorsängerinnern und -sängern ins Gesicht und auf die Instrumente zu sehen. Um meinen eigenen Raum auszudehnen von mir bis dort wo die Musik entstehen wird.

Immer ist es mir wichtig, wenn ich jemandem zuhöre, wenn ich ein Buch lese, wenn ich ein Gemälde betrachte, wenn ich einen Film schaue, wenn ich einem Tanz zusehe, dass ich ganz und gar dem, was gerade passiert und entsteht, meine Aufmerksamkeit schenke. Instinktiv spüre ich meine Rolle als Mit-kreierender, die den Raum in sich öffnen und halten soll, damit das, was über meine Sinne und von den Herzen und Körpern der Kreierenden bei mir ankommt, sich hier ausdehnen und an Bedeutung und geistiger Reichweite gewinnen kann. Ohne einen Resonanzraum entfaltet die Kreation nicht ihr ganzes Potential. An meiner Fähigkeit ein solcher Resonanzraum für die entstehende Kreation sein zu können, habe ich seit ich klein bin gemessen, wie sehr im Hier und Jetzt, achtsam und ganz da ich bin. Es hat mir gedient, zu beobachten, wie sich meine Gedanken verhalten und die Gefühle in meinem Körper. Woher kommt diese Anspannung, woher jetzt diese Anstrengung oder Ablenkung? Im Beisein des authentischen und kreativen Seins großer Künstler habe ich mein eigenes authentisches und kreatives Seins-Vermögen erprobt und gemerkt, wie frei ich dafür innerlich noch werden muss: Die Vorführenden schenken etwas so Großes und Wichtiges und ich möchte fähig sein, es ganz und gar auf- und annehmen zu können.

Als das erste Chorstück beginnt, denke ich, ich sei bereit. Doch diese natürlichen Stimmen aus diesen gewöhnlichen Körpern und dazu dieses Lied, das mir aus der Kindheit bekannt ist, weil meine Mutter es sehr liebt und in der Adventszeit gern singt oder im Radio hört - das trifft mich alles unerwartet und mit heftigem Schwung. Ohne, dass ich weiß, was genau passiert, sitze ich von einer Minute zur nächsten aufgeweicht da, und würde am liebsten lauthals in Tränen ausbrechen. Direkt vor den Chorsängern und dem Quintett, in der ersten Reihe.

Also nicht am liebsten, das wäre mir sehr peinlich. Und so versuche ich angestrengt, mich abzulenken, um das Zittern um den Mund loszuwerden. Allmählich erinnere ich mich an meine Selbstregulation; dass ich mit mir verbunden bleiben und das Konzert mit-kreieren möchte; was ich jetzt tun kann, um meine starken Emotionen zu verkörpern. Nicht meine Gerührtheit wegwischen, sondern integrieren und wieder in das Hier und Jetzt zurückkommen, mich wieder stabil fühlen, um der Musik ruhig zuhören zu können.

Schließlich wieder mehr bei mir angekommen kann ich erneut mit den verschiedenen Stimmen mitschwingen als sei ich Teil davon. Die Musik wahrnehmen und mich nicht in meiner Emotionalität und Erinnerung auflösen. Überhaupt wird mir bewusst, dass es gerade das ist: Diese verschiedenen Stimmen erheben sich hier um mich herum, werden zu einem Gespräch und lassen mich Teil haben an diesem Austausch. Diese Stimmen öffnen sich mir und laden mich ein, Teil des Austauschs zu sein.

Das berührt mich erneut so sehr, dass vor meinen Augen alles schwimmt und ich den Kopf senken muss. Und dann dieses Stück von Vivaldi, es enthält so wundervolle, dunkel und intim klingende Melodien, dazu die schönen ungewöhnlich tiefen Klänge der Violinen und des Cellos, dessen menschenstimmenähnlichen Klang ich ohnehin so liebe. Mehrmals spüre ich, gleich platze ich, es ist zu viel. Und merke erneut, dass ich mein Nervensystem regulieren muss: Diesmal es ein bisschen mobilisieren, damit ich nicht so ganz offenporig hier sitze und mich gegen die starken Eindrücke nicht wehren kann. So komisch es klingt: Ein klein bisschen zu machen, damit ich wieder Teil des Austauschs sein und mitschwingen kann in dem, was da vor sich geht. Alle Stimmen hören und nebeneinander da sein lassen, ohne sie in dem Meer meiner emotionalen Reaktionen zu versenken.

Tatsächlich, es geht jetzt wieder. Keine Tränen oder Zittern mehr für den Rest des Abends. Allerdings merke ich, dass ich auf die Mobilisierung achten muss. Sie verselbstständigt sich gern und schaltet meine Gedanken ein. Ich schweife ab oder beginne, über verschiedene Solisten oder Klänge und Melodien zu urteilen. Nun bin ich ein bisschen zu sehr zu und drehe mich um mich selbst. Sodass ich mich wieder etwas reguliere und zurückfinde in den Körper-Austausch mit den Körper-Stimmen. Den Witz mancher Melodieführungen spüren kann und mit einem Lächeln darauf reagiere.

Und dann ist das Konzert vorbei und auch der ganze Zauber. Ich klatsche so heftig, dass meine Oberarme schmerzen, doch die Stimmen sind nun verstummt. Die Musiker und Sänger sind nur noch gewöhnliche Menschen, die Dirigentin nimmt ihren Blumenstrauß entgegen und sagt, Auf Wiedersehen. Sodass wir uns wie aus einem Traum erwachend nun mit unseren Schals, Mützen und Winterjacken beschäftigen müssen und dem Gedrängel zurück aus der Kirche hinaus. Draußen an der frischen Luft erwache ich vollends und fühle mich wieder klar mit mir selbst verbunden. Ich spüre, dass ich die Eindrücke doch nicht sofort mit meinem Mann besprechen will, erst einmal lassen wir die Stille und die Kälte zu. Das Erlebte ist mir wichtig und schwingt in mir weiter, doch ich muss damit nicht mehr herausplatzen. Ich habe wieder Kapazität für das, was gerade passiert. So merke ich, dass die Erfahrung sich in mir gerade in Stoff für einen Blogbeitrag verwandelt. Und das erfüllt mich, denn so reihe ich mich ein in die Riege der Kreierenden.


Hast du auch Lust zu lernen, wie du eine neue Art von Freundschaft mit deinem Nervensystem schließen kannst, um besonders Schönes mit-kreierend zu erleben und es sich verwandeln zu lassen in etwas, das du kreierend zurückgibst? Dies zu lernen und zu üben, darum geht es im NeuroEmbodiment. Die innere Reise in dein Mit-Kreieren im Innen und Außen kannst du schon heute beginnen. Hier kannst du dich weiter dazu informieren und die ersten Schritte unternehmen. Danke fürs Lesen! Jasmin

Zurück zum Blog

Weiter
Weiter

Leben als Abenteu(r)er